Zeit nutzen
In den letzten Wochen habe ich eine neue Gewohnheit eingeübt. Das Langsamfahren.
Ok. Ich glaube das muss ich ein bisschen erklären.
Ich pendle seit vielen Jahren mehrere tausende Kilometer im Monat überwiegend auf der Autobahn. Dieses regelmäßige Pendeln hat zwischenzeitlich auch große negative Auswirkungen auf mein Leben:
- Ich brauche mehr als eine Stunde nach der Heimfahrt, um meinen Kopf wieder halbwegs für mein Privatleben frei zu bekommen
- Die Fahrzeiten haben in den letzten Jahren erheblich zugenommen: Von 30min pro Strecke auf gut 45min und mehr. Ich verliere viel Zeit für sinnvolle Tätigkeiten und es wird immer mehr.
- Die anderen Verkehrsteilnehmer produzieren mit Ihrem in meinen Augen falschen Verhalten erhebliches Stresspotential: Ich merke, wie ich immer aggressiver und unfreundlicher fahre.
- Wenn ich denn mal Urlaub mache merke ich, wie ich die letzten Tage vor Urlaubsende in Stress gerate, wenn ich nur an das Pendeln denke.
- Ich fühle mich praktisch jeden Tag total erschöpft, komme teilweise schon körperlich kaputt beim Kunden an.
- Ich verfahre 400 bis 500 EUR monatlich an Sprit.
Vor ein paar Wochen habe ich dann mal genauer nachgesehen, woher diese deutliche Veränderung gekommen ist. Dabei habe ich mehrere Faktoren herausgearbeitet:
- Ich bin älter geworden und kann den negativen Stress nicht mehr so gut verkraften wie früher.
- Das Verkehrsaufkommen hat erheblich zugenommen. Gerade der LKW-Verkehr ist in meiner Gegend erheblich gestiegen. LKW-Verkehr auf 2-spurigen Autobahnen bedeutet, dass die Autobahn für den PKW-Verkehr beinahe zu einer 1-spurigen verkommt.
- Ich fahre häufig sehr schnell, um die „verlorene Zeit“ wegen der „ganzen Trödler“ wieder aufzuholen.
- Mein Auto verführt zum Schnellfahren und hohe Geschwindigkeiten brauchen höhere Aufmerksamkeit.
- Durch meine Fahrweise habe ich den Spritverbrauch auf über 10 Liter gebracht.
Also habe ich den radikalen Schnitt gewagt und folgendes getan:
- Auto gekauft mit deutlich weniger Leistung, um die Verführung zum Schnellfahren schon mal in den Griff zu bekommen („wer nicht hören will, muss fühlen“).
- Regel: Tempomat auf 120kmh einstellen und nur diese Geschwindigkeit fahren.
- Regel: Spritverbrauch auf einstellige Werte bringen; höheres Ziel: 6l/100km.
Das sind ja ziemlich nahe liegende Dinge. Diese Umstellung habe ich vor etwa 6 Wochen durchgeführt. Und ich habe alle Ziele erreicht, war auch nicht sonderlich schwierig. Aber überrascht hat mich, was sich noch verbessert hat:
- Ich komme fit zu Hause an, fühle mich völlig entspannt und kann sofort in mein Privatleben starten.
- Ich kann die Zeit fürs Pendeln, die durch die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 120 im Schnitt um 10-20min pro Strecke zugenommen hat, sinnvoll nutzen. Seitdem ich nicht mehr so eine hohe Aufmerksamkeit auf den Verkehr lenken muss, spuckt mein Kopf ständig kreative und neue Ideen aus. Ich habe mir also ein Tonbandgerät angeschafft.
Gerade der zweite Punkt ist einfach großartig, ich genieße das momentan sehr. Nebenbei habe ich festgestellt, dass die anderen Verkehrsteilnehmer zum allergrößten Teil gar nicht das Problem sind – die fahren völlig normal und genau so gut oder schlecht wie ich selbst auch. Auch die LKW-Fahrer sind gar nicht die rücksichtslosen Menschen, für die ich sie vorher gehalten habe.
Es ist wirklich kurios. Sobald sich der eigene Blickwinkel ändert oder ändern muss, verändert sich gleichzeitig so vieles andere mit. Und zwar zum Positiven, keine einzige momentane Erfahrung ist für mich oder mein Leben negativ. Ich investiere zwar pro Strecke etwas mehr Zeit, kann diese aber praktisch voll nutzen – und damit wiederum habe ich erheblich gewonnen.
Haben Sie solche Erfahrungen auch schon gemacht? Haben Sie sich auch schon einmal mit voller Absicht eingeschränkt, um sich „zu erziehen“? Was kam dabei heraus?